Vom Flughafen in Kozhikode bis zu Organic Wayanad im Landesinneren sind es knapp 140 Kilometer. Die Fahrt mit dem Auto (Linksverkkehr, ist ein Überbleibsel aus der Zeit als britische Kronkolonie) dauert je nach Verkehrsaufkommen zwischen dreieinhalb bis fünf Stunden.
Das alleine sagt sicherlich schon einiges über die hiesigen Strassenverkehrsverhältnisse aus. Zum einen sind speziell die Nebenstrassen häufig in einem sehr schlechten Zustand und zum anderen sind selbst in den abgelegenen, ländlichen Regionen extrem viele Leute unterwegs.
Es gibt eigentlich kaum mal eine Minute, in der einem nicht wenigstens ein Vehikel entgegen kommt, bzw. man von einem Motorroller, Tuk-Tuk, Auto, Kleintransporter, Bus oder LkW überholt wird. Gerne passiert auch beides gleichzeitig...
Verbunden ist das ganze zudem mit einem sehr hohen Geräuschpegel, denn es wird eigentlich dauerhaft gehupt. Ohne Benutzung der Hupe ist man auf indischen Strassen dem Untergang geweiht.
Wer nicht hupt, hat hier keine Chance irgendwo heil hinzukommen, denn die Nutzung der Hupe ist hier nicht nur ein Warn- sondern vor allem ein Kommunikationsmittel, um auf sich aufmerksam zu machen.
Egal ob normale Überholvorgänge oder Kamikazeaktionen vor Kurven, Einfahrten in Kreuzungsbereiche oder Parken, jede Aktion wird mit ein bis zwei kurzen Huptönen angekündigt. In der Regel funktioniert das ganze erstaunlich gut, denn im Gegensatz zu Deutschland, wo die Benutzung der Hupe ja quasi den emotionalen Ausnahmezustand bedeutet und einer Kriegserklärung gleichkommt, ist es in Indien völlig normal und gehört zum guten Umgang quasi mit dazu.
Wo selbst auf Nebenstraßen viele Menschen unterwegs sind wohnen logischerweise auch viele Leute. Indien ist flächenmässig etwa neunmal so groß wie Deutschland und hat mittlerweile 1,2 Milliarden Einwohner.
Nach jetzigen Prognosen wird es China im Jahr 2020 als bevölkerungsreichstes Land der Erde überholen. Das spiegelt sich auch im Siedlungsbild wieder. Insbesondere in den ersten zwei Stunden unserer Fahrt durch Kerala hatte ich das Gefühl, durch ein nicht enden wollendes Dorf zu fahren.
Omnipraesent sind dabei vor allem die drei grossen Religionsgemeinschaften. Der Glauben spielt hier im Alltag immer noch eine sehr wichtige Rolle. In Kerala gibt es neben den obligatorischen Hindus eine große Zahl an Muslimen und eine für indische Verhältnisse weit üerdurchschnittlich große Christengemeinde.
Historiker begründen das mit der geographischen Lage Keralas auf dem indischen Subkontinent. Im Nordosten ist es durch die Gebirgskette der Western Ghats relativ dicht vom Rest des Landes abgeschirmt. Die größten Einflüsse von ausserhalb kamen also über den Seeweg mit den Arabern, Portugiesen, Holländern und Engländern, die dem Land wirtschaftlich, kulturell und eben auch religioes ihren Stempel aufdrückten.
Entlang der Straße bot sich demzufolge ein bunter Mix aus Kirchen, Moscheen und Hindutempeln sowie unzähligen entsprechenden Verzierungen an Autos, Bussen und Häusern. Besonders auffällig war zudem die Vielzahl der entlang der Straßen aufgehängten roten Fahnen mit Hammer und Sichel.
Kerala hatte 1957 die erste frei gewählte kommunistische Regierung der Welt und ist auch aktuell ein kommunistisch regierter Bundesstaat. Nach knapp zwei Stunden lockerte die Bebauung dann langsam auf und es ging in die Berge hinauf. Ab jetzt führte die Strecke über enge Serpentienen und Haarnadelkurven und wir kamen nur noch sehr langsam voran. Vor allem die oftmals etwas klapprigen LkW und Busse hatten mit der Steigung so ihre liebe Mühe. Auch hier zeigte sich, dass ohne die Nutzung der Hupe gar nichts geht. Enge, nicht einsehbare Kurven wurden einfach ohne großes Abbremsen geschnitten, wobei man sich vorher durch lautes Hupen dem eventuell entgegen kommenden potentiellen Unfallpartner schon mal pro Forma ankündigte. Eigentlich der totale Wahnsinn, aber da das alle so machen, klappt es überraschend reibungslos und stressfrei.
Moep, moep nächster Absatz! Nach der neunten von neun dieser extreme engen Haarnadelkurven (werden tatächlich auf Schildern runtergezaehlt) waren wir dann oben angekommen und durchquerten ein paar hundert Meter weiter das Willkommenstor zur Region Wayanad.
Die vorher schon üppige Vegatation entfaltete hier nun endgueltig ihre volle Pracht. Wir passierten Tee- und Kaffeefelder, sowie Pflanzen mit vielem, was man an Südfrüchten so kennt: Bananen, Grapefruit, Jackfruit, Mango, Litschi, Orangen, Limetten, Kokosnuss. Außerdem gab es hier auch eine Vielzahl an Gewürzen: Chili, Kardamon und natürlich der allgegenwärtige Pfeffer. Je näher wir unserem Ziel kamen und desto öfter wir abbogen umso schlechter und schmaler wurden die Straßen.
Nach knapp dreineinhalb Stunden Fahrt hatten wir dann um die Mittgszeit Vanamoolika erreicht und rollten langsam die extreme schlecht befestigte, lange Auffahrt den Hügel hoch und auf den Hof. Wow!
Mit einer so gepflegten Anlage hatte ich ehrlich gesagt nicht gerechnet. Vor einem U-förmigen Gebäudekomplex befand sich eine runde und mit akkurat geschnittenen Bäumen gesäumte kleine Rasenfläche, die gerade mit bunten Lichterketten geschmückt wurde. Als der Motor ausging herschte mit einem Mal absolute Stille.
In was für einem Idyll war ich denn hier bitte gelandet?
Vor dem Eingang wurde ich bereits von Chackochan erwartet und in Empfang genommen. Er ist der hauptverantwortiche Leiter und Ansprechpartner von Organic Wayanad und die absolute Ruhe in Person. Immer nett, immer zuvorkommend und jemand der auch als Chef überall noch selbst mit anpackt. Zum Beispiel wie jetzt gerade beim Lichterketten aufhängen.
Nach einer kurzen Begrüßung und Rundgang zeigte er mir mein Zimmer im großen Gästebereich. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Fenster und ein Ventilator – also alles was man braucht.
Internet gab es allerdings nur auf der anderen Seite des Platzes im Büro bzw. auf der Veranda davor, was zumindest die regelmäßige Kommunikation mit den Kollegen zuhause und vor allem das Schreiben meines Reiseberichtes etwas erschweren und verzögern sollte. Leider hatte bereits auf dem Flughafen in Stockholm das eingepackte IPad seinen Dienst versagt (wo ich das gerade schreibe fällt mir rückblickend nochmal auf: wer hat mir eigentlich in Stockholm am Flughafen NICHT seinen Dienst versagt???).
Jedenfalls war das Teil seitdem höchstens noch als Schneidebrett zu gebrauchen. Ich wollte allerdings weder mir noch euch Lesern zumuten, diese mehrseitgen Berichte “auf dr Mintastr mens Handzs yu screibn” (so hätte das wohl ausgesehen).
Daher organisierte ich mir in den nächsten Tagen entweder von Chackochan den Büroschlussel um dort am PC zu arbeiten oder das Notebook von George. George ist bei Organic Wayanad vor allem für den direkten Kontakt und die Zusammenarbeit mit den Farmern zuständig. George ist einfach grossartig. Immer hilfsbereit, humorvoll, außerdem spricht er sehr gut englisch und war für uns als Übersetzer sehr wertvoll. Englisch ist in Indien zwar Amtssprache, aber als Umgangssprache gerade in den ländlichen Regionen wird es damit manchmal schwierig.
Und das, obwohl Kerala den höchsten Alphabetiserungsgrad aller indischen Bundessstaaten hat. Aber gerade ältere Inder haben oftmals kaum oder nur sehr wenig Schulbildung genossen. Auch Hindi, das vor allem im Norden gesprochen wird, ist in Kerala nicht sehr verbreitet (nicht dass mir das geholfen hätte…). Die Leute sprechen hier fast alle die regionale Landessprache Malayalam. Ich habe bis jetzt immerhin ein Wort Malayalam gelernt: Pinnekanam = bis später!
Nachdem ich ich mich eingerichet hatte, wurde ich von Chackochan abgeholt und wir fuhren zu seinem Haus. Dazu muss man eigentlich nur einem kleinen, halbbefestigten Feldweg folgen, der einmal durch das Gelände von Organic Wayanad über einen Hügel führt. Wir passierten dabei bereits die Verarbeitungsanlage, das Ayurvedalabor, Gewächshäuser sowie die neu gebaute Wasseraufbereitungsanlage, aber dazu in den nächsten Tagen mehr.
Die Vegetation war auch hier sehr üppig und vielfältig, neben den bereits auf der Fahrt genannten Pflanzen kamen hier noch u.a. Papaya, Kurkuma, Ingwer, Kakao und noch viel mehr dazu. Das war aber nichts zu dem, was sich an Pflanzenvielfalt auf der anderen Seite des Hügels im bzw. rund um Chackochans Haus herum bot.
Laut seiner Aussage gibt es keine Pflanze die in Indien wächst, die er nicht bei sich him Garten stehen hat. Wahnsinn!
Dazu noch die absolut traumhafte Lage im Wald mit Blick von der Terrasse auf unzählige Palmen und einen als Wasserspeicher künstlich angelegten, viereckigen, grossen Teich.
Ein Traum, viel mehr geht nicht!
Ckackochans Frau Grace servierte mir dann ein fantastisches Lunch, bestehend aus unterschiedichen Curries mit und ohne Fleisch, Pasten, verschiedenen Broten und Bananen. Was für ein Festmahl. Und das war nur der Vorgeschmack auf die folgenden Tage, denn es gab jeden Tag morgens ein wahnsinnig reichhaltiges Frühstueck und abends ein ausladendendes Dinner. Ich habe selten so gut und abwechslungsreich gegessen wie an diesem Ort.
Nach einiger Zeit trudelte dann auch Jörg Volkmann von Elephant Beans mit seiner Frau Martina ein. Begleitet wurden die beiden von Hadwig und ihrem Sohn Johannes, die das Caterin bei und für Elephant Beans in Freiburg machen. Jörg hatte vor ein paar Jahren über eine Bekannte den Kontakt zu Organic Wayanad hergestellt und war auf der Suche nach gutem Robusta 2014 schon mit Pingo zusammen hier.
Seitdem hat er den Kontakt mit seinem jährlichen Besuchen weiter intensiviert und verfügt bereits über viel Hintergrundwissen hinsichtlich der Strukturen, Abläufe, Schwierigkeiten und Fortschritte hier vor Ort.
Heute war Martinas Geburtstag und die indischen Kollegen hatten für sie auf dem Hof der Kooperative eine Überraschungsparty organisiert.
Damit erklärten sich auch die vorhin bereits erwähnten Lichterketten. Was bei Tageslicht noch harmlos aussah, entpuppte sich bei der Rückkehr als ein epileptisches Chaos aus wild und bunt blickenden Lampen in allen möglichen Farben und Taktungen. Ich wollte es fotograferen, aber etweder war die Kamera nicht gut genug oder das Ganze war einfach zu abgefahren.
Ich vermute mal beides. Abgefahren war auch die Tatsache, dass wir hier als Geburtstagskuchen eine Schwarzwaelder Kirschtorte serviert bekamen. Danach gab es ein sehr ausladendes BBQ, zu dem neben den Mitarbeitern der Kooperative auch eine befreundete Farmerfamilie mit ihren Kindern eingeladen war. Super nette Geste von unseren Gastgebern von Organic Wayanad und ein weiteres Zeichen dafür, wie eng und persönlich dieser Kontakt nach relativ kurzer Zeit der Zusammenarbeit bereits geworden ist. Die beiden franzoesischen Praktikantinnen Mathilda und Susann (Matt, bist du schon unterwegs?) und die beiden Italiener Paolo und Federico rundeten die Runde ab (runde Formulierung mal sagen).
Als sich das ganze später irgendwann auflöste und ich schon auf meinem Zimmer war, klopfte es plötzlich an der Tür.
Draussen stand der indische Kollege Siby und fragte, ob ich eventuell Interesse hätte, draußen mit ihnen noch ein bisschen zusammen zu sitzen und ein paar Getränke zu nehmen. Sie hätten gerade jemanden nach Pulpally geschickt um Vodka zu kaufen. Logo hatte ich Lust!
Es dauerte dann zwar ein bisschen bis der Kollege wieder zurück kam, aber diese Pause überbrückten wir mit ein paar Tiger Beers, die ich am Vortag in Kozhikode am Flughafen noch im Duty Free shop gekauft hatte.
Kerala war bis vor drei Jahren der indische Bundesstaat mit dem höchsten Pro-Kopf-Konsum von Alkohol. Und zwar doppelt so hoch wie im Rest des Landes. Um das Ganze einzudammen wurde 2014 ein Plan beschloßen, der die schrittweise Einführung der Prohibition vorsah. Oder anders gesagt: Die Politiker wollen den ganzen Bundesstaat trocken legen.
Einer Vielzahl von kleinen Bars und Geschäften wurde - mit Ausnahme von Bier und Wein - der Verkauf von Alkohol verboten oder die Schanklizenz entzogen. Ausgenommen davon sind nur die Bars der großen Hotels oder hochklassige Restaurants.
In dem meisten Orten gibt es aber immer noch einige wenige Läden mit Lizenz. Vor diesen Shops bilden sich dann bereits morgens vor der Öffnung zum Teil lange Schlangen, erinnert ein bisschen an Methadonausgabestellen oder eine Filialeröffnung von Primark oder den Punkausschank bei Norwegian Air in Reihe 31…
Unsere lustige Runde bestehend aus einigen indischen Kollegen von Organic Wayanad, den beiden Italienern und mir saß dann bei ein Paar Flaschen Vodka noch bis nach Mitternacht draußen zusammen und amüsierte sich unter anderem köstlich darüber, sich dass ein paar Politiker wirklich denken sie könnten den einfachen Leuten den Spaß verderben.
Trinken und vor allem Essen sind in Indien zwar wichtig, aber der gesellige Faktor steht dabei nicht so sehr im Fokus. Hier gehts vor allem um die reine Nahrungsaufnahme.
Es ist daher nicht üblich, mit Getränken anzustoßen, sich zuzuprosten oder sich vor dem Essen einen guten Appetit zu wünschen.
Es gibt in der hiesigen Sprahe nicht einmal eine Vokabel dafür. Ich glaube mein bisheriger Grundwortschatz an Malayalam ist doch gar nicht so schlecht wie ich dachte. In diesem Sinne: Pinnekanam!