Nur noch 2 Tage und dann werde ich wieder nach Hause fliegen. Die Vorfreude auf zu Hause ist groß, gleichzeitig rückt der Abschied hier immer näher. Dieses Mal habe ich ein Extra-Gepäckstück mitgenommen, 20 kg Extra – verteilt auf 42 Bücher sind mit mir nach Marcala zur COMSA gereist. Bei meinem letzten Besuch hatte mir Gerly erzählt, dass es ein neues Projekt im Beneficio Seco gibt, dem Ort an dem all die Container für den Export beladen werden: eine eigene kleine Bibliothek im Beneficio Seco. Es gibt in den großen Städten Bibliotheken und auch einige Läden in Marcala in denen man Bücher kaufen kann, aber die Anzahl dieser Quellen ist sehr beschränkt und auch das Angebot ist übersichtlich. Als leidenschaftlicher Bücherwurm hatte ich unserem Kollektiv von dem Projekt erzählt und die Bereitschaft, COMSA dabei zu unterstützen, war sofort da. In den Wochen vor meiner Reise konnte ich so Bücher kaufen und auf die Reise mitnehmen. Am Ende war es ein bunter Mix von Kaffee-, gesellschaftspolitischen Büchern und einigen Romanen. Zwei der Bücher haben wir aus Spanien kommen lassen, seit 1991 gibt es in Barcelona das Kollektiv „Virus“. Das Kollektiv verlegt eigene gesellschaftskritische Schriften und unterstützt auch als Vertriebsplattform den Verkauf von Büchern von anderen Verlagen. Ziel des Kollektives ist es, die Verbreitung von qualitativ hochwertigem antagonistischem Material jenseits der großen Vertriebsapparate zu erleichtern und so den Zugang zu einer radikalen Kultur zu fördern.
Hier konnte ich das von unserem Orca (Christopher) vorgeschlagene Buch „Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus" in spanischer Sprache finden und kaufen. Auf Spanisch lautet der Titel „Modo de vida imperial“. Wie schon geschrieben, am Ende wurde es ein bunter Mix, z.b. einige Romane von Gabriel Garcia Marquez und das 1040 Seiten starke Kaffee-Standard Buch „Coffee: Growing, Processing, Sustainable Production: A Guidebook for Growers, Processors, Traders, and Researchers“ (Kaffee: Anbau, Verarbeitung, nachhaltige Produktion: Ein Leitfaden für Erzeuger, Verarbeiter und Händler Kaffee: Anbau, Verarbeitung, nachhaltige Produktion: Ein Leitfaden für Erzeuger, Verarbeiter, Händler und Forscher").
Zuerst stand jedoch ein gemütliches Frühstück bei Lennons Mama an: Schwarze Bohnen, warme Tortillas, Cremá, Käse, Platano. Dazu drei Tassen Kaffee, ein gewaschener Catuai Rojo von Lennons Finca „Liquidambar“, der mit vollen Schokoladen-Beeren-Noten einen tollen Start in den Tag verheißt. Gemeinsam mit Lennon machte ich mich auf dem Weg zu Gerly und dem Beneficio Seco. Fährt man ganz gemütlich, erreicht man vom Zentrum Marcalas aus das Beneficio innerhalb von 20 Minuten. Da auch die große Hauptstraße dieses Mal erheblich unter dem Wetter gelitten hatte, fühlte es sich wieder an, wie die Fahrt auf einem löchrigen Käse. Kaum ist man um ein Loch herum manövriert, muss man dem nächsten ausweichen. Damit es noch spannender wird, tauchte in der Ferne ein Stier und seine Begleitung auf. Wie schon mehrfach geschrieben, frei rumlaufende Tiere gehören zum Alltag hier. Der Stier vor uns hatte zwar einen Strick und ein Halfter, aber der Anblick, der sich uns bot, war kurios: ein ca. 50 kg schwerer hagerer, dünner Mann zog an dem einen Ende des Stricks und der Stier stand mit seiner geballten Kraft von mehren hundert Kilo quer auf der Fahrbahn. Wir näherten uns in Schrittgeschwindigkeit, der Mann fuchtelte mit erhobenen Händen und dem Strick hinter dem Stier, das Tier stand. Wir auch. Der Mann zog seinen Hut vom Kopf und berührte damit die Flanke des Tieres. Keine Reaktion. Lennon und ich unterhielten uns über die Begegnung mit den zwei Stieren auf dem Weg zu Mario und Josalinda am vergangenen Wochenende. Keiner von uns hatte beabsichtigt, nochmal so nah an einen Stier zu kommen. Wir hatten sowieso Zeit, also warteten wir weiter. Nach einigen Minuten wildem Herumzerren am Strick, stand der Mann da und auf einmal beliebte der Stier sich zu bewegen. Er ging schnurstracks an den Rand, die Bewegung kam so plötzlich und so heftig, dass der Mann einfach mitgezerrt wurde und fast in den naheliegenden Graben rutschte. Lennon fuhr langsam vorbei und wir waren beide erleichtert, dass die Situation für uns aufgelöst war.
Im Beneficio Seco angekommen, brachte Lennon die Reisetasche mit den Bücher in Gerlys Büro und ließ uns allein. Es war mittlerweile sehr heiß draußen, in Gerlys Büro lief die Klimaanlage auf vollen Touren und ich zog mir schnell meine Jacke an und band mir ein großes Tuch um den Hals. Es fühlte sich für mich an, als ob ich in einen Kühlschrank eingetreten wäre. Während Gerly im T-Shirt vor mir saß. Grinsend packten wir die Bücherstapel aus. Ich hatte jeweils drei, vier oder fünf Bücher in durchsichtige Plastikmülltüten gesteckt und dann ca. eine halbe Rolle Paketklebeband genutzt, um alles gut zu fixieren. Mein Gedanke dabei war, möglichst viel Stabilität und Schutz bei möglichst wenig Gewicht bei der Reise und Transparenz für den Zoll bei der Einreise. Zusätzlich hatte ich auch jeweils einen kleinen Zettel rauf geklebt, auf dem Stand „Libros para una biblioteca“ (Bücher für eine Bibliothek). Die kontrollierenden Zöllner bei der Einreise hatten eine "Verpackung" geöffnet, die Bücher durch geblättert und die anderen Bücherblöcke nur kurz und lieblos von A nach B verschoben.
Gerlys Schreibtisch füllte sich immer mehr. Sie lass mit Begeisterung die Klappentexte und sagte gefühlt bei jedem zweiten Buch: "Das muss ich lesen." Im Laufe der letzten Tage hatte ich schon so einiges gehört, Gerly nimmt Ihre Aufgabe als Bibliothekarin sehr ernst. Ein Buch darf vier Wochen ausgeliehen werden, Name und Telefonnummer des Ausleihers werden sorgfältig in eine Liste eingetragen. Ist das Buch nach vier Wochen nicht zurück, dann ruft Gerly täglich an. Bei meiner Freundin Lily ging es so weit, dass Gerlys Anrufe nicht mehr angenommen wurden, bis sie per Text schrieb: „Es geht nicht um das Buch :D, ich muss Dich sprechen.“ Lily hatte nämlich leider das Buch verlegt, sie musste es neu kaufen und dann wurde in der Liste vermerkt, dass alles ok ist. Gerly reihte alle Bücher in kleine Stapel auf und fragte nach einem Foto mit mir. Freudestrahlend setzte ich mich vor die Bücher und dachte an Quijote. Es ist vielleicht nur eine Kleinigkeit, aber 42 Bücher sind eine tolle Bereicherung für die kleine Bibliothek und manchmal reicht auch schon das eine Buch, um eine neue Perspektive zu sehen und eine Idee zu bekommen.
Gerlys Sohn hatte beispielsweise während Corona ein kleines Geschäft aufgrund eines Buches entwickelt, er hat begonnen Dünger herzustellen und in kleinen Mengen an Nachbarn zu verkaufen. Aktuell möchte Gerlys Sohn Pilot werden und die Welt bereisen, mit diesem Nebenjob verdient sich der junge Mann etwas Geld dazu, was er auf dem College gut gebrauchen kann. Gerly machte noch einige Selfies und dann unterhielten wir uns über die neue Saison. Im Handumdrehen war es Mittag. Da für heute Abend ein Treffen mit einigen befreundeten Cupper*innen (Kaffee-Verkoster*innen) geplant war, verzichtete ich auf das Mittagsessen und Lennon fuhr mich zurück ins Hotel. Die nächsten Stunden verbrachte ich am Rechner. Die Zeitverschiebung ist recht praktisch, da ich beispielsweise mit Ecuador fast die gleiche Uhrzeit teile.
Kurz vor 18:30 Uhr machte ich mich fertig, draußen donnerte wie schon so oft der Regen erbarmungslos nieder. Per Whatsapp erhielt ich die Nachricht, dass Lennon vor dem Hotel wartete. In Regenjacke huschte ich schnell ins Auto und nur wenige Minuten später waren wir wieder im "Ronys". Unser Kollege und Freund Nelson war schon mit seinem Sohn vor Ort. Nelson war wie Lennon 2016 vier Wochen lang für ein Praktikum bei Quijote bei uns in Hamburg. Damals war sein Sohn vier Jahre alt, mittlerweile ist er elf. Nelson ist alleinerziehender Vater, seine Mutter und seine Geschwister unterstützen ihn tatkräftig, aber letztendlich ist er verantwortlich für seinen Sohn. Wir hatten uns im Mai lange unterhalten und Nelson imponiert mir immer wieder. Er ist für jeden Spaß zu haben, aber er achtet unbeirrbar darauf, dass sein Junge echte Kontakte hat und die Zeit am Handy kontrolliert und kurz ist. Nach kurzer Zeit kamen Rommel (jr.) und Lily an, zu fünft unterhielten wir uns über aktuelles und vergangenes. 2014 hatten wir fünf zum ersten Mal miteinander Kaffees verkostet, eine lange Zeit ist seither vergangenen. Die Stunden vergingen wie im Flug, da morgen die Vorbereitung zu einer Feier in Marcala beginnen würde und keine Schule sein würde, hatten wir keine Eile, da auch Nelsons Sohn ausschlafen konnte. Am Ende wurden mit 4 Handys Selfies gemacht bzw. Nelsons Sohn fotografierte uns auch noch, wir alberten herum, dass wir uns gar nicht verändert hätten bzw. sehr, aber nur zum Besseren. Gegen zehn Uhr war ich zurück im Hotel und schlief glücklich und zufrieden ein.