Gesichter, Desillusionierung und Hoffnung
Heute war der erste echte Tag unserer Kaffeereise, wir sind in Tena angekommen und versuchten uns erfolgreich an unseren Reiseplan zu halten. Dieser bestand heute aus dem Besuch unserer Freund*innen von unserer Partnerkooperative Waylla Kuri.
Waylla Kuri ist ein Bestandteil des weitgehend autonomen Volkes der Kichwa von Rukullakta, einer Region hier in der Nähe von Tena. Ca. 50.000 Hektar Land werden durch die ca. 6000 hier lebenden Kichwas basisdemokratisch selbstverwaltet. Dies beinhaltet auch zivile Rechtsprechung und kollektiven Grundbesitz dieser Fläche. Grund kann also nicht individuell verkauft werden. Es darf keine Chemie in der Landwirtschaft eingesetzt werden, Monokulturen sind verboten, ebenso das Fällen von Waldbäumen für die Landwirtschaft. Die Anbauflächen sind alle Chakras, also vor allem zur Subsistenz und meist permakulturell genutzte Flächen. Verkauft wird Guayusa, Kakao und Kaffee. Nachhaltiger kann Kaffee nicht angebaut werden, hier hat er zumindest im Anbau keinen wirklich negativen Effekt. Durchschnittlich 35 Nutzpflanzen wachsen hier auf einem Hektar, darüberhinaus ist die natürliche Diversität unfassbar hoch.
Die Mitglieder der PKR unterstützen geschlossen den Generalstreik und sind somit gerade nicht nur mit der Landwirtschaft und ihren normalen Leben beschäftigt, sondern auch überall im Land auf der Straße. Kämpfend für ihre Rechte, zusammengefasst in den 10 bekannten Forderungen. Auf diese Forderungen wird von Seiten der Regierung verständlicherweise weiterhin nicht eingegangen. So eskaliert die Situation weiter. Und der Streik zeigt uns viele Gesichter dieser Revolte, auch wenn wir ihn auch hier zumeist in den hiesigen Medien und über Erzählungen verfolgen können. Medial zeigt sich hier vor allem das Gesicht der Massendemonstrationen in der Hauptstadt Quito.
Das indigene Kulturzentrum ist mittlerweile nicht mehr von Polizei und Militär besetzt, so zogen zehntausende heute dorthin und nahmen es wieder in Besitz. Außerdem den hart umkämpften angrenzenden Park, in dem in den letzten Revolten die großen Versammlungen abgehalten wurden. Eine Gruppe von tausenden Demonstrant*innen zog aber zum Parlament um es "in Besitz zu nehmen". Die Auseinandersetzungen dort dauern jetzt seit 15 Uhr an (jetzt ist es hier 21:30). Die Wut und der Mut der Demonstrant*innen sind für meine Erfahrungen aus Europa (davon habe ich ein paar) beispiellos. Angst vor Militär und Polizei scheint es keine zu geben. Daraus resultieren schrecklicherweise auch heute wieder zwei durch Projektile getötete Demonstranten.
Hier im von Quito nur 150 km entfernten Amazonasdschungel zeigt sich ein ganz anderes, aber mindestens genauso entschlossenes Gesicht der Revolte. Wie im kleineren Maßstab überall im Land, werden hier Ölbohrfelder, Bergbaugebiete und Kraftwerke von Indigenen besetzt. Das ist ein noch ganz anderes Kaliber als die Straßenschlachten in Quito. Hier gibt es keinerlei Journalisten und fast keine Aufmerksamkeit. Militär und Söldner der Bergbaukonzerne operieren gegen diese Besetzungen massiv und unbeobachtet. Auch wenn es nur 40 km von hier entfernt passiert bekommen wir nur sehr wenig davon mit. Erzählungen werden erst in den nächsten Tagen hier ankommen, Netzabdeckung von Telefonanbietern gibt es dort nämlich auch nicht. Die Forderungen der Revoltierenden nach dem Ende des zerstörerischen Abbaus von "Rohstoffen" ist die meiner Meinung nach weitgehendste Forderung. So vernünftig und selbstverständlich die Forderung nach einem Stopp der Zerstörung der Erde und ihrer Lebensgrundlage aus Sicht der indigenen Völker ist, so utopisch ist sie für Kapitalist*innen und den weißen Mann. Und für den Großteil von uns Europäer*innen wohl auch. Wo soll denn sonst das Öl und das Gas herkommen, wenn wir es nicht mehr aus Russland kaufen wollen. Und Kupfer, und Uran, und Gold. Wie würde Don Quijote diese Frage betrachten? Hier ist dies eine im wörtlichen Sinne existenziele Frage. Bergbau zerstört zweifellos die Lebensgrundlage der Menschen, die schon lange vor den europäischen "Eroberern" hier gelebt haben.
Wieder ein ganz anderes Gesicht zeigte sich uns auf unserer Fahrt ins nur 15 km entfernte Rukullakta. Wir starteten zu Fuß früh morgens in soziale Zentrum "Casa Bonuccelli" der italienischen NGO "ENGIM". Diese setzt sich stark für die Kichwa hier in der Gegend ein und schult vor allem Frauen aus den Gemeinden in demokratischen und nachhaltigen Themen. Der Verantwortliche Kollege Roberto d´Amato traf sich mit uns, um nach Rukullakta zu unseren Freund*innen von Waylla Kuri zu fahren. Taxis fahren morgens noch nicht, also nahmen wir die hier sofort als Ersatz improvisierten Mototaxis. Leute aus den Gemeinden mit chinesischen Motorrädern, die sich mit Personentransport während des Generalstreik etwas dazuverdienen. Drei Leute, drei Motorräder. Ab geht es durch die Straßensperren die schon morgens aktiv sind. Diese Blockaden sind fast alle eine Mischung aus Ernst (Wirtschaftsgüter und Autos mit unbekannten Personen werden wirklich nicht durchgelassen, Busse sowieso nicht) und Party. Es ist immer etwas zu tun und ein solidarischer Beitrag für den Streik als Wegzoll fällt auch ab. Etwas zum Trinken oder Essen oder ein paar Münzen. Schneller als uns lieb war waren wir bei der Verabeitungsanlage von Waylla Kuri.
Hier trafen wir auf ca. 15 der insgesamt 35 aktiven Mitglieder der Kooperative und konnten uns die neue Infrastruktur und die eindrucksvoll guten Verarbeitungsanlagen anschauen. Ca. 3 Stunden besprachen wir die Entwicklung der letzten drei Jahren, in denen ich nicht hier war. Die Pandemie und die Unmöglichkeit für Versammlungen haben hier deutliche Spuren hinterlassen. Das organisatorische Niveau der Kooperative hat stark gelitten und es entwickelten sich einige interne Konflikte unter den Produzent*innen, die wir bisher nicht gut genug verstanden hatten. Umso besser, dass wir nun gemeinsam Strategien erarbeiten können und uns vor Ort austauschen konnten. Hoffnung macht mir vor allem die sehr aktive Anwesenheit von mehreren sehr jungen und aktiven Produzentinnen und Mitgliedern der Kooperative Waylla Kuri. Junge und gut gebildete Frauen voller Kraft und Engagement und somit eine realistische Perspektive für die Zukunft.
Wir besuchten eine Chakra des Produzenten Simon Tapuy, er ist gleichzeitig Präsident der Kooperative für Guayusa, der des Pueblo Kichwa de Rukullakta. Es besteht also auch eine konkrete Aussicht auf einen neuen Import von Guayusa. In der Chakra habe ich innerhalb nicht mal einer Stunde mehr als 70 unterschiedliche Nutzpflanzen gesehen. Was für ein Traum. Dazwischen auf 8 Hektar (davon 3 Hektar unbearbeiteter Dschungel) verteilt ca. 1100 Kaffeepflanzen. Das Gegenteil einer Monokultur.
Zurück bei Waylla Kuri gab es für uns traditionelle Tänze, Maito (in Bananenblatt gegarter) Fisch gefüllt mit Palmherz und Gemüse mit Yuka und Guayusa. Wir besprachen weitere gemeinsame Schritte und machten uns wieder auf den Weg zurück nach Tena. Mit einem Pickup Taxi hinten auf der Ladefläche zur großen Straßensperre auf der Brücke hinter Archidona, zu Fuß durch (viele Blockierer mittlerweile dank Selbstgebranntem am 11 Tag der Blockade in "Partystimmung") und dann wieder hinten auf einem schrottigen chinesischen Kleinmotorrad (mit nüchternem Fahrer) zurück nach Tena.
Im Casa Bonuccelli tauschten wir uns noch lange mit Roberto aus und analysierten den Tag und die Entwicklungen. Dann ging es zu Fuß 3 km durch Tena zurück nach Hause. Unterwegs tranken wir noch leckeren frisch gepressten Orangen-Papaya-Saft und aßen ein paar gefüllte Tortillas am Ecuavolley-Stadion.