Bereits zwei Wochen vor meiner Ankunft hatte ich mit Julissa, der Chef-Cupperin des Beneficio Secos über anstehende Termine für Verkostungen gesprochen.
Unser langjähriges, gemeinsames Natural-Projekt von Quijote mit COMSA ist so aufgebaut, dass ich die zehn, am Projekt beteiligten, Produzent*innen vor der Ernte frage, ob sie auch in dieser
Saison teilnehmen möchten bzw., ob sie die Situation so einschätzen, dass eine Aufbereitung von Naturals auf ihrer Finca potentiell möglich und effizient sein wird.
Bei der Natural Aufbereitung werden die reifen Kaffeekirschen (Früchte der Kaffeepflanze) selektiv und mit großer Achtsamkeit geerntet, um z.B. Risse oder Quetschungen der Frucht zu
vermeiden.
Die Kaffeekirschen sehen ein wenig wie ein Mix aus Süßkirsche und Frucht der Hagebutte aus, im Inneren verbergen sich eng aneinander gekuschelt die zwei Kaffeebohnen.
Nach der Ernte benötigen die Kaffeekirschen viele individuelle und ineinandergreifende positive Faktoren (z.B. Wetter, Lagerung während der Trocknung, Wendungen pro Tag, flexibler Sonnen- und
Regenschutz etc.), damit es am Ende der Trocknung dunkel, schwarzviolette, braune getrocknete Kirschen gibt, die einen intensiv süßlichen, fruchtigen Geruch verströmen.
Im Oktober, November 2023 haben wir uns auf individuelle Mengen geeinigt, basierend auf der Menge die bei Quijote benötigt wird bzw. auch finanziell machbar ist und der jeweiligen Kapazität des
einzelnen Produzenten.
Ein elementarer Punkt des Projektes ist, dass Quijote das volle finanzielle Risiko trägt und weder die Produzent*innen noch COMSA negativ beeinträchtigt werden.
Dies wiederum ist für Quijote nur machbar, aufgrund der langjährigen Beziehung zu unseren honduranischen Partner*innen/ Freund*innen und dem daraus resultierenden Vertrauen in einander.
Konkret lässt sich das Risiko für Quijote wie folgt für die Ernte 2024 beziffern: Kalkuliert sind 236 Sack á 69 kg Rohkaffee in einem Wert von 161.573,48 US$.
Im Gegensatz zu der sonst üblichen Quijote Praxis, finanzieren wir bei diesem Projekt „nur 40%“ vor, da es durchaus sein kann, dass die anvisierte Menge letztendlich doch nicht möglich ist:
Ist das Wetter zu schlecht, die Temperaturen zu kalt oder zu heiß, gibt es Regen oder fehlende Hände, weil Produzent*in oder Helfer*innen krank sind oder fehlen, schlägt die Aufbereitung
fehl.
Schlecht aufbereitete Naturals können beißende Essig- oder Fruchtsäure, vergammelte und vergorene Früchte, Jod- und unangenehme wilde Leder- und schimmelnde Erdaromen in die Tasse bringen.
Einiges davon kann man durch dunkle Röstungen kaschieren oder mit Robusta Mischungen teilweise abmildern, so oder so ist der Rohkaffee für diese Ernte „verloren“.
Denn jedes Jahr aufs Neue ist es unser Ziel, fruchtig, süße und spannende Espressi wie unseren Flying Pingo oder Nanni oder fantastische, komplexe Microlots zu erreichen, die zeigen können, was
Kaffee sein kann.
Kaffee wird traditionell für die jeweilige Exportmenge bezahlt. Beim Natural Projekt haben wir uns wieder auf einen Kaufpreis von 4,50 US$ pro Libra geeinigt, wobei ein Libra ca. 500 g
entspricht. Dieser Preis deckt nach Einschätzung der Produzent*innen die Kosten und ermöglicht einen Gewinn. Zugleich ist der Kaffee für Quijote zu diesem Preis im schwierigen deutschen Markt
verkaufbar und rentabel für unser Kollektiv.
Die jährlichen Schwankungen der Quote von frisch geernteter Kirschmenge zu letztendlicher Exportmenge ist sehr unterschiedlich und sehr individuell, da z.B. das Alter der Kaffeepflanze bzw. die
jeweilige Nährstoffversorgung der Pflanzen sich unterschiedlich bei Ernten auswirken können. Und das Wetter kann sowohl zum Damoklesschwert als auch zum schönsten Geschenk der Saison
werden.
Der Älteste am Projekt beteiligte Produzent ist aktuell 75, die Jüngste ist 31 Jahre alt, sie und alle anderen am Projekt Beteiligten sind mit ganzem Herzen Kaffeebauern.
Schreiben oder reden wir miteinander ist zwar immer die erste Frage "Wie geht es Dir und der Familie?", als zweites aber immer "Wie geht’s der Finca, den Jungpflanzen, der Blüte oder wie reif
sind die Früchte?"
Jeder von Ihnen hat mindestens so viele Fotos und Videos von Kaffeepflanzen, Kaffeekirschen, wie Fotos von Familie und Freund*innen auf dem Handy.
Es ist immer noch Arbeit und Einkommen, aber es ist eben auch schier grenzenloses Herzblut und jede*r von Ihnen und uns hofft, betet und träumt von einer einzigartigen Tasse.
Von dem Moment, den man sieht oder der in jeder Einzelheit nach der Verkostung geteilt wird. Wenn das Lächeln, die leuchtenden Augen und die pure Freude im Gesicht der Cupper*innen und die Tasse
bis fast zum Kaffeesatz ausgeschöpft ist. Und bei der Besprechung, jede*r der Cupper*innen der*die Erste sein will und jede Einzelheit mit zig Worten benannt, umschrieben wird, um nur ja keines
winzigen Detail der Tasse unerwähnt zu lassen.
Von dem Tag, den man bei jedem kommenden Gespräch Revue passieren lässt, was während der Verkostung in einem neutralen Umfeld zuvor in alle Stille erkannt und aufgeschrieben wurde.
Einige dieser Momente sind auch nach einem Jahrzehnt bei mir sofort wieder da und auch Jahre später kann ich mit dem oder derjenigen Produzent*in noch breit grinsend, über dieses „Eine Lot“
voller Enthusiasmus austauschen.
Jedes Lot ist eine Erntecharge, eine Charge eines konkreten Tages, einer Kaffeevarität oder einer konkreten Stelle auf der Finca oder die Summe davon.
Und jedes Lot ist immer nur das sichtbare Ergebnis eines ganzen Jahres voller Arbeit, Bangen, Freude und kleinen und großen Problemen und immer auch ein weiterer Schritt in einer Geschichte einer
Familie, einer Finca, eines Ortes.
Eine Verkostung, ein „Cupping-Tag“ ist also nie nur ein kurzer Moment der Arbeit, es ist so viel mehr.
Um dem gerecht zu werden, verkosten wir seit Jahren alle Lots bzw. deren repräsentierende Muster „blind“. „Blind“ bedeutet in diesem Fall es gibt einen sechsstelligen Zahlencode, bestehend aus
Jahreszahl und einer zweistelligen Zahl.
Zum Ernteende informiert mich jede*r der Produzent*innen, wie viele Lots es gibt. Habe ich diese Information von allen, weiß ich wie groß der diesjährige Nummernkreis sein muss.
Dann werden die Codes vergeben, wobei es keine Codegruppen oder nummerisch aufeinander folgende Codes für eine*n Produzent*in gibt.
Diese jeweilige Codenummer bleibt bis zur Verschiffung bestehen und wichtig, da alles sich darauf bezieht.
Jede*r Produzent*in bemustert das eigene Lot, d.h. besteht ein Lot aus 5 Säcken mit getrockneten Kirschen, wird jeder Sack mit einem Probenzieher durchstochen, die Kirschen werden auf
einer sauberen Unterlage gesammelt. Danach werden die Kirschen in Plastikbeutel verpackt, verschlossen und der Code wird auf den Beutel geschrieben.
Von diesen Mustern bekomme ich Fotos. Kann ich die Zahlen gut lesen, dann werden die Muster in Absprache mit Julissa ins Beneficio Seco gebracht.
Dort werden alle Muster im Vorbereitungsraum gesammelt. Die Feuchtigkeit der Bohnen wird gemessen, die Exportquote kalkuliert (abhängig von Bohnengröße und Anzahl der Rohkaffeefehler). Diese
Informationen werden in eine Liste eingetragen, die dann wiederum an mich geschickt wird.
All dies ist vor meiner Reise nach Marcala passiert. Für Dienstag war meine Ankunft in Marcala geplant, und für Mittwoch, Donnerstag und Freitag jeweils um 9:00 Uhr der Beginn der täglichen
Verkostung.
Aufgrund der diesjährigen Anzahl von 48 Lots der zehn Produzent*innen ist die Gleichung ganz einfach, 3 Tage, jeweils 2 Tische und jeweils 8 Lots.
Bild links: Mustertüten mit getrockneten Kaffeekirschen
Bild Mitte: Vorbereitung des Cuppings bei herrlicher Aussicht
Bild rechts: Gleich geht's los - die Kaffees werden aufgegossen
Von Beginn an stand auch fest, dass sowohl Julissa als auch ihr Kollege Selvin mit verkosten werden. In Absprache mit COMSA und den Produzent*innen habe ich noch eine langjährige Freundin um
Teilnahme gebeten. Liliana ist seit zig Jahren Cupperin, mit einem der besten Q-Grader Abschlüsse (Zertifikat für Kaffeeverkostung), der mir bekannt ist. Wir haben zig Naturals zusammen verkostet
und wir harmonieren einfach super. Von daher war klar, wir verkosten zu viert.
Bei Quijote sind wir zu dritt in einer Cupping AG, meistens schaffen wir es aber nur zu zweit. Eine Verkostung zu viert ist purer Luxus und auch ein echter Beleg für die Wichtigkeit des
Projektes. Julissa und Selvin sind gut ausgelastet mit der Verkostung von Angebots- und Verschiffungsmustern und dennoch bekommt unser Natural Projekt Zeit und volle Aufmerksamkeit. Jedes der
Muster wird am Vortag von Julissa geröstet. Sie hat mir schon so oft gesagt, dass jede Röstung ihr Beitrag ist, damit die ganze Arbeit der Produzent*innen in bester Form auf den Verkostungstisch
kommt.
Zum Zeitpunkt der Verkostung bin ich die Einzige mit der Information, welcher Code zu welchem*r Produzent*in gehört. Aufgrund dessen, dass mein Gehirn eher auf Farben und Sprache, als auf Zahlen
ausgelegt ist, ist diese Ausgangsbasis wirklich blind. Ich kenne nicht einmal meine Postleitzahl oder Telefonnummer oder die von meinen wichtigsten Menschen.
Bei der Verkostung beurteilen wir den gemahlenen Kaffee in Geruch, Farbe und Uniformität des Sets. Im Aufguss beurteilen wir Geruch und Uniformität, beim Verkosten dann Geruch/ Geschmack,
Nachgeschmack, Säure, Körper, Balance, Sauberkeit (Fehler, Defekte), Süße und den Gesamteindruck.
Jedes dieser Felder kann maximal mit 10 Punkten bewertet werden, am Ende können es also maximal 100 Punkte sein. Das unterste Segment von Spezialitätenkaffee beginnt dabei mit 80 Punkten.
Quijotes Kaufverträge beinhalten fast ausschließlich mindestens 84 Punkte.
Wobei der Unterschied zwischen 80 zu 84 sehr, sehr groß ist und der zwischen 84 zu 88 noch größer, der von 80 zu 90 ist riesig und der von 80 zu 100 Punkte ist eine ganze Welt.
Es ist, als würde man von Chat GPT das 1. Kapitel von Cervantes „Don Quijote“ in einfacher Sprache mit dem Original vergleichen. Die Vielfalt und Ausdrucksstärke wäre eine ganz andere
Ebene.
Obwohl wir ein Jahr nicht miteinander verkostet haben, waren die Ergebnisse der einzelnen Cupper der ersten 8 Kaffees bei 6 Kaffees nur maximal 1 Punkt auseinander. Das ist ein super Start und
konkreter Beleg für unsere Erfahrung im Umgang mit Naturals.
Bei 2 Kaffees auf diesem Tisch gab es jeweils einen Cupper mit größerer Abweichung. Der Luxus bei vier erfahrenen Cupper*innen ist, dass dieses Ergebnis einfach gestrichen werden kann.
Die folgende Tische hatten mal mehr oder weniger größere Punkteabstände an die Tafel gebracht.
Über jeden Kaffee haben wir ausführlich geredet, bei einigen Kaffees war die Wahrnehmung der Tasse sehr verschieden. Dies kann mehrere Ursachen haben, z.B. unterschiedliche Paletten also
Geschmacksbandbreiten, Sensibilität für bestimmte Attribute oder Aromen oder schwankende Konzentration der Cupper.
Jeder dieser gemeinsamen „Cupping-Tage“ hat 3 bzw. 3,5 Stunden beansprucht.
Am Ende der drei Tage sind wir uns bei 6 von 48 Lots nicht einig in Punkten bzw. es gibt Einzelne von uns, die sich in ihrer von der Mehrheit abweichenden Meinung sehr sicher sind.
Deshalb wird es am Montag noch einmal eine zweite Runde auf einem Tisch mit diesen Kaffees geben. Danach werden sowohl die Durchschnittspunkte als auch die Beschreibungen der Tassen
feststehen.
Damit jeder dieser Cupping-Tage blind stattfinden kann, gibt es bis zum Ende der Verkostungen keine Rückmeldungen bzgl. jeweiliger Punkte an einzelne Produzent*innen bzw. innerhalb unserer
gemeinsamen WhatsApp-Gruppe.
Müsste ich nämlich den Produzent*innen oder den anderen Cupper*innen Namen zum jeweiligen Lot nennen, dann könnte es sein, dass die 6 für Montag geplanten Kaffees alle von einem Produzenten sind
oder von zwei. Einige der Produzent*innen haben trotz unterschiedlichster Bedingungen ähnliche Tassen und Qualitäten.
Und mit diesem Wissen wäre kein Cupping nach dem ersten Tisch mehr so blind wie der Erste.
Dieser Punkt ist für mich jedoch elementar und Teil meines Verständnisses von Professionalität in diesen Bereich. Für alle von uns ist dieses Warten jedoch sehr anstrengend. Die Einzige
Information, die bisher geteilt wurde, ist: Wir haben nur Kaffees mit 80 Punkten oder mehr. Was aus meiner Sicht eine echte Erleichterung ist.
Keine schwerwiegenden Defekte oder Fehler, die bei einem Fermentationsprozess, der in großer Menge umgesetzt wird, immer ein realistisches Risiko ist. Und beides hatten wir in der Vergangenheit
auch schon. Dies einem*r Produzent*in sagen zu müssen, ist der vielleicht schwierigste Teil des Projektes, besonders wenn nach der Recherche keine konkrete Ursache gefunden wird oder eine
Ursache, die unkalkulierbar und oft auch tragisch ist.
Von daher…es bleibt spannend und mehr werden wir und Ihr erst nach dem 13. Mai erfahren.
Bild links: Selvin war Erster mit dem "Riechen des Aufgusses", da blieb kurz noch Zeit für ein Foto
Bild Mitte: Der Großteil des Kaffees landet im Spuckbecher, Cuppingsheet unterm Arm, Stift parat und Löffel zum Mund.
Bild rechts: Soviel Spaß muss sein, warum immer nur Tassen und nicht auch einmal die Schuhe der Cupper*innen