Ich bin fast exakt 3 Jahre nicht gereist, bis es im Mai 2023 endlich wieder losging. Wie bei so vielen anderen auch, waren damit sämtliche Zeitpläne und Absichten passé. Einer der für mich größten Wermutstropfen war, dass ich mir vor dem Frühjahr 2020 mir nicht einmal ansatzweise vorstellen konnte, nicht reisen zu können. Die Realität holte mich aber natürlich ein.
Die Konsequenz war ganz einfach: Zuletzt hatte ich 2019 einige der Produzent*innen unseres „Honig-Kaffee" gesehen. Aufgrund der erdachten stetigen Verfügbarkeit, war einer der Finca-Besuche sogar noch länger her. Zuletzt war ich 2018 auf der Finca La Conception von Manuel Pereira, auf der Finca von Roland Pablo Melghem sogar zuletzt im Jahr 2016. Ich hatte mit beiden zur Erntezeit immer Kontakt über Facebook, aber das war es leider. 2019 hatte ich mich mit Manuel Pereira noch in einem Restaurant getroffen, das war es dann aber auch. Das Natural Projekt hat im Laufe der Zeit, einige Änderungen / Entwicklungen durchlaufen, eines blieb jedoch gleich, der zeitlich Aufwand ist extrem in jedem Bereich. Wir haben seit mehreren Jahren sieben Produzent*innen von denen wir Honig-Kaffee (cafe melado) kaufen, wir bekommen einzelne Muster, verkosten sie und dann mischen wir unsere eigenen Blends (Mischungen). Es hat immer reibungslos funktioniert. Und wie bei so vielem, wenn es gut läuft, sinkt die besondere Wertschätzung für die sehr gute Arbeit, herausragende Leistungen / Qualitäten werden quasi als Normalität betrachtet. Dies wird dem Produkt und den Produzent*innen natürlich nicht gerecht, aber es ist vermutlich auch sehr menschlich.
Der zwischenmenschliche Kontakt hält diese Corona-Distanz und scheinbare Normalität nur begrenzt aus. Daher war das Treffen mit den Honig-Kaffee Produzent*innen für mich die zweithöchste Prio bei dieser Reise. Ich hatte in Absprache mit COMSA meine Termine wieder selbst organisiert. Alles war ganz einfach, Dienstagvormittag das Treffen mit Roland Pablo Melghem, Mittwoch das Treffen mit Manuel Pereira. Dienstagmorgen sollte es um 8:00 Uhr losgehen. Aufgrund der Uhrzeit hatte ich mich entschieden mein geliebtes Frühstück sausen zu lassen, stattdessen länger zu schlafen und dann „Go“. Mit der stillen Hoffnung, dass mich Roland zu einem Kaffee einlädt. Diese Hoffnung wurde bisher nie enttäuscht.
Als ich aufwachte, ploppten zahlreiche Whatsapp Nachrichten auf, Facebook piepte herum und in unserem Quijote Intranet gab es auch einiges. Zwischen duschen und Zähne putzen, machte ich mir eine kurze Liste, was ich heute alles noch nebenbei erledigen musste. Mein Kollege Chris war heute den ersten Tag nach seinem Urlaub wieder im Büro, also ein kurzer Anruf, um kurz die wichtigsten Dinge abzugleichen bzgl. Ecuador, Peru und letzter Honduras Container und weiter. Handy kurz noch aufladen, irgendwann denke ich mal daran, eine Powerbank mitzunehmen. Kurz noch Computer, dann meine verdreckten Farmschuhe in eine Mülltüte gestopft und in einen hübschen Stoffbeutel meines Lieblingsbuchladen in der Langen Reihe, damit es nicht zu „albern“ aussieht und weiter. An die Schuhbürste denke ich das nächste Mal auch. Der Schlamm von Lennons Finca bedeckte immer noch die kompletten Schuhe. Keiner der Produzent*innen, den ich kenne, hat morgens dreckige Schuhe, echt peinlich. Aber ich hatte nur eine Zahnbürste mit und die brauchte ich für meine Zähne und im Badezimmer stand vorsorglich, dass man bitte nicht die Handtücher zum Schuhe putzen nutzen solle. Unglaublich was es nicht alles gibt, auf die Idee wäre ich nicht gekommen. Auf einmal piepte mein Facebook. Manuel schrieb mir, dass er schon fertig und abfahrbereit sei und ich ihm gerne schreiben kann, wenn ich so weit bin. Perfektes Timing - es war kurz vor acht und ich fertig bzw. bereit, um auf die Farm zu gehen. Also kurze Info an Manuel: „Lista“ (fertig) und einen grinsenden Smiley. Kurze Antwort und 10 Minuten später saßen wir in Manuels Pickup.
Es war wie immer, egal wie viel Zeit vergeht, meistens kann der Smalltalk sofort losgehen. Ich erkundigte mich nach den Kindern und dem Fazit zur letzten Ernte insgesamt und Manuel sprudelte nur so vor Informationen. Manuels neunjährige Tochter hat das Downsyndrom, in der Schule läuft es gut. Sein kleiner, vierjähriger Sohn entwickelt sich sehr gut. Die Finca läuft und der neue Geschäftszweig mit dem Tourismus ist vielversprechend. Besonders jetzt ohne Corona. Manuel hat finanziell gesehen aufgrund seiner Familie mehr Möglichkeiten als andere, aber er ist nicht weniger engagiert oder wäre deshalb arrogant.
Er hat vor einem Jahr begonnen 5 kleine Apartments auf seiner Finca „La Conception“ zu integrieren, damit nationale und vor allem internationale Tourist*innen die Möglichkeit bekommen, hautnah zu sehen und mitzuerleben, was eine Kaffee-Finca bedeutet. Manuel hat die Finca 2004 gekauft und unglaublich viel dafür getan, damit sie vielfältig, effizient und produktions-stark ist und bleibt. Es gibt drei Wassertanks auf der Finca und zusätzlich natürliche Wasserquellen und effiziente Regenwasserablaufsysteme und Kanäle. Gespickt mit zig Blumen und diversen Bäumen, Gräsern und Gemüsebeeten, sieht die Finca wie eine gemalte Postkarte aus. Die Pflanzen strotzen nur so vor Gesundheit und die Arbeit endet anscheinend nie: Drei der Helfer arbeiten bereits seit 30 hier, einer sogar seit 40 Jahren. Der ältere Herr, der schon 40 Jahre hier arbeitet, ist drahtig, seine Haut von der Sonne gegerbt und jeder Hieb der Machete sitzt. Für uns ist es vielleicht ungewöhnlich, hier oft Alltag. Unkraut wird oft mit der Machete direkt am Boden abgeschnitten. Dann hat man ca. vier Wochen Ruhe, bevor man an gleicher Stelle wieder anfangen muss oder sich dem wuchernden Grün ergeben muss. Für diese Hand-Arbeit gibt es je nach Produzent*in zwei Argumente bzw. eine Kombination. Erstens, mit einer Machete können die erfahrenden Arbeiter*innen sauberer arbeiten, als sie es mit den modernen Maschinen könnten und zweitens, diese Arbeit ist wiederkehrend, dauert länger und somit ist auch der Lohn für die jeweilige Familie länger gesichert. Es gibt hier auf dem Land ein "ganz einfaches System", was oft noch am Leben gehalten wird: Wenn man etwas Geld hat, dann ist es die eigene Pflicht, auch dafür zu sorgen, andere, die weniger Glück hatten, zu unterstützen. Sei es Unkraut mit der Machete entfernen, fegen, harken etc. Jede Hilfsarbeit ist eine grundsätzliche Einkommensquelle für all diejenigen, die keine eigene Finca oder keine feste Arbeit haben. Für mich immer wieder sympathisch.
Manuel hat keinen familiären Kaffeehintergrund. Manchmal weiß er keine Antwort auf eine konkrete Kaffeefrage meinerseits, aber er weiß, wen er auf der Finca fragen kann. Und er tut dies auf stets höflich Art und Weise und nicht als Chef von oben herab. Er ist wissbegierig und experimentierfreudig. Er versucht sich an neuen Produkten, wie z.b. einem Likör aus Geisha-Kaffeekirschen. Dabei sind Geisha Kaffees oft die teuersten Kaffees, geringer im Volumen im Vergleich zu anderen und als Likör ist der Rohstoffeinsatz horrend, aber er versucht es. Er unterstützt Nachbarn bei der Vermarktung derer Produkte in seinem kleinen Laden auf der Finca. Es gibt unter anderem Wein, Chilipasten und mehrere Honigsorten im Regal. Nach einem ausgiebigen Rundgang über die Finca und mehreren Kaffees und Gebäckstückchen haben wir uns auf den Rückweg nach Marcala gemacht.
Mittlerweile war es kurz nach 11 Uhr. Während wir die eine holprige Straße runter ruckelten und ich kurz in Gedanken war, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Heute war Dienstag. Ich war mit Roland verabredet und nicht mit Manuel. Leicht verwirrt fummelte ich mein Handy aus meiner Tasche, in der stillen und vagen Hoffnung, dass ich mich getäuscht hatte und alles gut war. Ein Blick auf meine Facebooknachrichten und den Kalender und ich hatte es schwarz auf weiß. Ich war um 8 Uhr mit Roland verabredet und nicht mit Manuel, das Treffen mit Manuel sollte morgen sein. Beschämt und leicht hektisch fragte ich Manuel, ob er Rolands Nummer hätte. Mein Handy ist in Honduras beschränkt und mein Honduras Handy hatte keinen Akku mehr. Manuel rief Roland an, reichte mir das Handy weiter und ich entschuldigte mich gefühlt 10 Mal innerhalb einer Sekunde. Roland sah es entspannt und meinte, wir könnten unser Treffen am Nachmittag nachholen bzw. gegen 13:00 Uhr. Dankbar und erleichtert sagte ich zu und entschuldigte mich dann noch einige Male. Manuel bekam alles mit und meinte, ich sollte mir keine Gedanken machen, alles gut. Jeder von ihnen weiß, dass es oft vollgepackte Tage gibt und zig Termine und dass mal etwas durchrutschen kann. Alles gut. Er lächelt mich an und versicherte mir noch ein paar Mal, dass es ok ist. Langsam aber sicher, erholte sich mein Puls und ich kriegte mich wieder ein. Es war nichts passiert, alles war geregelt und ok.
Es war Zeit zum Mittagessen und Manuel lud mich in sein neues Cafe / Bistro nahe der Innenstadt ein. Ich war noch immer nicht ganz ausgeglichen, also vergaß ich meine dreckigen Farmschuhe gegen die Turnschuhe zu wechseln. Aber auch das wurde mit einem Grinsen abgetan und gut. Ergänzend noch mit dem Kommentar, dass die Erde von einer Finca nie ein Problem in seinem Cafe ist. Gleichzeitig mit uns kam Manuels Frau an. Zu dritt unterhielten wir uns weiter, während Manuel und seine Frau mit ihrer Nichte den Essensplan besprachen. Frischen Mangosaft gab es gleich. Reis, Gemüse, Kochbananen und eine superleckere Hühnerkeule mit einer Pilzrahmsoße folgte wenige Minuten später.
Nur wenige Minuten nach dem Essen bat ich Manuel mich zurück zum Hotel zu bringen, damit ich dieses Mal bereit für das Treffen mit Roland war.
Nachdem ich 10 Minuten im Hotel war, kam Roland. Grinsend umarmten wir uns und alles war gut. Seit der letzten Ernte hatte sich einiges getan und besonders der schlechte Zustand der Straßen wurde zu unserem Hauptthema auf der Fahrt zur Finca. Roland teilt mit vielen Produzent*innen das gleiche Los, nach zu viel oder bei starkem Regen ist es nicht möglich zur Finca zu fahren. Der Weg ist steil, besteht aus einer Sandschicht mit Steinen und in Kombination mit Regen entsteht eine rutschige Schlammschicht oder es wird so uneben, dass 40 cm (oder mehr) tiefe Rillen entstehen oder eine Kombination aus beidem. Das Fazit ist das gleiche, Wege sind teilweise nicht passierbar, man muss abwarten, bis das Wetter besser wird, man muss laufen, eine Alternative suchen (Cross Motorrad, Maultier, Pferd) oder im schlimmsten Fall sogar warten, bis der Weg repariert wird. Nach ca. 40 Minuten kamen wir auf der Finca an.
Auch wenn es sich nach einem 0815 Spruch anhört, seine Finca ist wirklich einmalig (letztendlich sind alle Fincas (für mich) individuell und einmalig). Die Finca El Bosque hat sehr viele Buchen und sehr, sehr hohe Gräser, Kräuter, Blumen. Ich bin nur 1,60 cm, also ziemlich klein, von daher ist "hoch" relativ, aber wir gingen fast die ganze Zeit durch kniehohes „Grünzeug“. Die Finca befindet sich auf 1450 Meter im Ort „El Pastel“. Vorsichtshalber laufe ich bei solchen Gelegenheiten immer in den Fußabdrücken des Besitzers. Roland hatte Gummistiefel an, ich meine dicken Trackingschuhe, Schutz vor Dreck, Trittsicherheit ist das eine, aber es ist eben eine Finca und hier gibt es auch zig Tiere. Darunter auch Schlangen und einige davon sind giftig.
Und ich hatte am Vormittag gerade erst wieder mit Manuel darüber geredet, er achtet nämlich immer akribisch darauf, dass sein Auto abends vollgetankt ist, falls er schnell losmuss, weil jemand Hilfe braucht. Ein Arbeiter einer Nachbar-Finca wurde vor kurzem von einer Schlange gebissen, sein Zustand verschlechterte sich rapide, sodass Manuel um Transport-Hilfe gebeten wurde.
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf bewegte ich mich besonders vorsichtig durch das hohe Gras. Die Pflanzen von Roland strotzen nur so vor Gesundheit, einige der Pflanzen sind schon wortwörtlich randvoll mit Kirschen. Die Kirschen sind noch grün, aber eben reichlich. Fruchtbäume mit Limetten, Zitronen, Orangen und Bananen sind überall verteilt, dazwischen einige Buchen bzw. Baumstümpfe. Unwetter und Borkenkäfer hinterlassen auch hier ihre Spuren. An einigen Stellen der Finca haben sich Ameisen ihren Platz erobert. Wie so vieles gibt es diese Tierchen hier in zig Arten und Größen. Einige von ihnen sehr aggressiv, andere eher entspannt. Die drei Bauten, die ich hier heute zu sehen bekam, gehörten entspannten Vertretern der Gattung. Die Größe war jedoch durchaus beeindruckend. Während wir über die Finca gingen verdunkelte sich der Himmel allmählich, wie in den letzten Tagen war Regen angesagt. Da die Wetterapp nicht wirklich zuverlässig ist, beendeten wir bei den ersten Tropfen unsere Tour und machten uns auf den Rückweg. Roland brachte mich zurück zum Hotel und ich versprach ihm, der nächste Besuch käme bald. Die Qualität ist immer wieder beeindruckend, die Produzent*innen haben innerhalb weniger Jahre die Aufbereitung von Honig-Kaffee/Cafe Melado unglaublich professionalisiert. Am Abend traf ich mich dann noch mit Gerly, der Leiterin der Bodega (Lager) des Beneficio Seco. Dank Gerly konnte Quijote die Warenannahme und Verarbeitung der Naturals beeindruckend verbessern. Begleitet wurde sie von ihrer Tochter. Wie so oft diente uns das Bistro / die Bar "Ronys" als Treffpunkt. Ein leckeres Essen, in toller Gesellschaft machte den Tag perfekt, während der tägliche Regen seine Melodie spielte.